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Tim Evers

Zwei Welten

30.10.24, irgendwo zwischen Busan und Seoul, Südkorea



„Inmitten zunehmender Spannungen hat Nordkorea zwei symbolträchtige Straßen nach Südkorea gesprengt“ titelt die Zeit am 15. Oktober 2024. Das ist ja mal ein beschissenes Timing, haben wir doch vor nicht einmal 24 Stunden unsere Fährfahrt von Japan nach Südkorea gebucht. Ein mulmiges Gefühl macht sich in uns breit, welches Adina mit der Frage „Sollen wir wirklich fahren?“ auf den Punkt bringt. Die nächsten Tage verfolgen wir aufmerksam das Geschehen, doch auch auf den Seiten des stets zur Vorsicht mahnenden Auswärtigen Amtes finden sich keine Anmerkungen zu den aktuellen Spannungen und so wagen wir den Schritt.  Für 40€ und damit für japanische Verhältnisse ziemlich günstig, wird man 6 Stunden lang auf einer kleinen Matratze in einem 10er-Zimmer durchgerüttelt und erreicht mehr oder weniger entspannt den internationalen Überseehafen von Busan. Schon von weiten erstrahlt die schillernde Skyline der Stadt, die die zahlreichen breiten Sandstrände säumt und Vergleiche mit anderen Küstenmetropolen wie Miami oder Rio de Janeiro förmlich aufdrängt.

Abgeholt werden wir von einem älteren Koreaner in einem äußerst modernen Elektrofahrzeug. Auf drei Bildschirmen, die über das gesamte Fahrzeugcockpit verteilt sind, läuft unterschiedlichste Software und diverse LEDs sowie Anzeigen, tauchen das Automobil in ein futuristisches Licht. Unser Fahrer entpuppte sich als äußerst redselig. Da aber auch hier das Englisch nicht für ein 60 Minuten füllendes Gespräch ausreicht, behilft sich der sympathische Herr kurzerhand mit einer Übersetzungsapp. Während wir der maschinellen Stimme der App lauschen, die die zahlreichen Ausflugtipps unseres Taxifahrers übersetzt, saust an unserer Fensterscheibe das schillernde Lichtermeer Busans vorbei. Dass dieses Land offiziell noch zu einem Schwellenland gehören soll, wirkt bei einem Blick aus dem Fenster irgendwie falsch, kommt uns doch alles in diesem Land so viel moderner als in der alten Heimat vor. So fahren wir mit über 300 Stundenkilomtern durch einen unterirdischen Tunnel, während ich diese Worte schreibe.  Und trotz der Tonnen an Gestein und Stahl die sich über uns stapeln, habe ich ausreichenden 5G-Empfang, um noch mal sicherheitshalber nachzurecherchieren, ob Südkorea wirklich ein Schwellenland ist.  Ja ist es und mir erscheint es jetzt umso fragwürdiger.

Die Südkoreaner selbst zeigen sich stets freundlich und höflich und verbergen vor allem in Bezug auf Mina ihre Neugierde nicht. Modisch gekleidet und gut gelaunt bevölkern sie an den Wochenenden die zahlreichen Restaurants und Kneipen der Kilometer langen Strandpromenaden der Stadt. Von Spannungen und Krisen keine Spur. Zumindest merken wir durch unseren oberflächlichen Blick nichts davon. Doch auch als ich mit drei Koreanern nackt und verschwitzt in der Sauna sitze und dabei ununterbrochen die Nachrichten laufen, scheint der unberechenbare Nachbar aus dem Norden kein Thema zu sein. Es wird über die Wahl in Japan berichtet und über den Wahlkampf in den USA. Davon, dass ein mit Atomwaffen bestückter Irrer gerade Brücken sprengen lässt und Südkorea auf seine persönliche Blacklist setzt, jedoch kein Wort. Vielleicht gehört es ja zur medialen Agenda, dem polternden Diktator nicht permanent eine Bühne zu bieten? Vielleicht hat sich aber auch nach 70 Jahren Dauerkonflikt ein schlichtes gesellschaftliches Desinteresse an dem Gebaren des obersten Führers breit gemacht? Schwer zu sagen. Das Hauptinteresse der drei Koreaner liegt jedenfalls in diesem Moment nicht bei den Nachrichten, sondern bei mir. Eine Erfahrung, die ich übrigens in Zeiten rechtspopulistischer Hochkonjunktur jedem empfehlen kann, allein um mal zu wissen, wie es ist, ganz allein und sprichwörtlich nackt von allen anderen angestarrt zu werden.

Nach dem die ersten unverhohlen Blicke überstanden waren, legte sich die anfängliche Neugierde und alle gingen erneut dazu über, die wohlige Wärme der unzähligen Becken und Saunen des koreanischen Badehauses zu genießen. Ein weit verbreitetes Vergnügen in Südkorea, was sich auch an der großen Besucherzahl der heißen Quellen zeigt. Die Südkoreaner wissen scheinbar das Leben zu genießen, sei es am Strand, in den unzähligen Bars und Kneipen, in den riesigen Shoppingcentern der Stadt oder eben im koreanischen Badehaus. Überall wird dem modernen Leben und seinen Versuchungen gefrönt, während nur ein paar hundert Kilometer weiter das koreanische Brudervolk im Winter verhungert und erfriert und von einem rachsüchtigen Diktator drangsaliert wird. Ein Hoch auf die Freiheit und die Demokratie. Mögen wir sie für immer beschützen und verteidigen.

 

 

 

 

 

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