top of page
Tim Evers

Wo Licht fällt, fällt auch schatten

19. Juni 2017, Rio de Janeiro,




„La ciudad maravillosa“, die wunderbare Stadt. Wenn dieser Name wohl auf eine Stadt zutrifft, dann ist es Rio de Janeiro. Umgeben von sanften, mit atlantischem Regenwald bedeckten Hügeln und dem größten Stadtwald der Welt, schmiegt sich die Metropole an die Guanabara-Bucht und ihren weltberühmten Stränden, während im Rücken der Stadt die Christus-Statue hoch auf dem Corcovado thront und ihre Arme schützend über Rio ausbreitet. Das Ganze bildet eine paradiesische Szenerie, an der man sich wahrlich nicht satt sehen kann.

Aus gutem Grund sind Großstädte normalerweise nicht so unser Ding und üblicherweise treten wir schnell die Flucht an, doch mit Rio ist das anders. Spät abends erreichen wir den Flughafen und buchen mit dem frei verfügbaren Internet noch schnell ein Hotel, denn wir wollen uns nicht auf eine Suche von Tür zu Tür begeben. Die wunderbare Stadt ist ebenfalls für ihre Schattenseiten berühmt. Wir finden ein Apartment direkt an der Copacabana, in einem sicheren Stadtteil. Nach einer kurzen Verschnaufpause, machen wir uns so gleich auf zum Strand, lassen uns einen Caipirinha mixen und bummeln die riesige Promenade entlang. Der drei Kilometer lange Strand wird von gewaltigen Scheinwerfern beleuchtet, die gesamte Nacht, um ihn sicherer zu machen. Unzählige Einheimische tummeln sich hier in den Abendstunden und machen den weißen Sand zu ihrem privaten Fitnessstudio. Denn die Brasilianer sind sportverrückt und in Rio scheint dieser Körperkult besonders ausgeprägt zu sein. Tagsüber wird die Haut in der Sonne gebräunt und es wird gerne gezeigt, was man hat (oder was man sich hat machen lassen). Der Strand gleicht dabei einem riesigen Laufsteg. Am Abend werden dann die Muskeln an den überall zu findenden und frei zugänglichen Geräten geschunden oder man lässt sich von einem professionellen Fitnesstrainer am Strand anbrüllen.

Am nächsten Abend streifen wir durch die Straßen der Stadt, dann geraten wir an eine Kreuzung, an der mächtig was los ist. Viele Menschen sind auf den Straßen, sitzen vor Lokalen, strömen einen Berg hinauf und hinunter. Das Straßenbild hat sich dabei mit dem Überqueren der Kreuzung komplett geändert. Die schicken Restaurants und Wolkenkratzer von Hilton und Co., die die Copacabana säumen, wurden gegen schäbige Bars und Plastikstühle auf der Straße eingetauscht und ein Blick den Berg hinauf, lässt die spärlichen Behausungen der Armen erahnen. Wir haben den Eingang zu einer Favela gefunden. Interesse und Wagemut machen sich breit. Wir finden zwei Polizisten, die am Fuß des Berges stehen und fragen, ob wir dort hochgehen könnten, oder ob es „peligroso“ (gefährlich) sei. Der in voller Kampfmontur dastehende Polizist, sichert in diesem Augenblick seine Waffe und steckt sie zurück in den Brusthalter seiner schusssicheren Weste, während er antwortet, „Si, muy, muy“. Jessi und Lukas schauen uns erwartungsvoll an und wir übersetzen, es sei „sehr, sehr gefährlich“. Eine eindringliche Warnung also und wir lassen von der fixen Idee ab. Dennoch ist unser Interesse nun geweckt. So nehmen wir auf einigen der Plastikstühle an der Straße Platz, bestellen ein Bier und einen undefinierbaren selbst Gebrannten aus einer riesigen Flasche und beobachten das Treiben.

Ziemlich schnell werden wir aus der Beobachterrolle gerissen und geraten selbst in den Mittelpunkt des Interesses. Natürlich kommen als erstes die Dealer. Und als wir klarmachen, kein Kokain kaufen zu wollen, wird sich wenigstens etwas Bier geschnorrt, um kurze Zeit später noch mal zu fragen, ob wir denn nicht jetzt etwas haben wollen. Dann gesellt sich ein ziemlich zerlumpter Typ zu uns. Er bequatscht uns, wir verstehen nichts, dennoch wird irgendwie kommuniziert. Man gibt sich die Hand, klopft sich auf die Schulter, dann bricht der Mann plötzlich in Tränen aus. Wir sind uns nicht sicher, ob es sich hierbei um Emotionen über die lang vermisste Nähe zu anderen Menschen handelt oder einfach um eine drogeninduzierte Reaktion. Beides ist irgendwie vorstellbar. Dann wird es uns zu viel und wir schütteln den Typen ab. Sofort kommt der Wirt herbeigeeilt, der uns seit unserer Ankunft mit wachsamen Blick beobachtet hat. Er sagt etwas, wir verstehen wieder nichts. Dann holt er sein Handy und übersetzt für uns. „Seid vorsichtig, das sind alles Diebe“. Wir lachen kurz, kontrollieren dann aber nochmals reflexartig die Taschen. Wir danken ihm und bestellen noch eine Runde. Mit dem nächsten Bier kommen auch alte Bekannte. Der Dealer probiert noch einmal sein Glück und auch der vermeintliche Junkie ist wieder da und versucht uns diesmal ein Näh Set zu verkaufen. Als wir dankend ablehnen, hebt er sein T-Shirt und entblößt eine riesige Geschwulst am Bauch. Wieder unter Tränen und wieder unter den wachsamen Blicken des Wirtes, der sichtlich um uns besorgt, immer mehr Schweißperlen auf der Stirn bekommt. Nachdem auch noch eine verrückte Frau vorbeischaut, schreitet der beherzte Wirt ein und vertreibt die Leute. Wir trinken aus, während der Wirt den Laden aufräumt. Noch einmal kommt er zu uns, fragt uns besorgt, wo wir wohnen und wie wir nach Hause kommen und wir verstehen, dass es Zeit ist zu gehen. Wir verabschieden uns von unserem Aufpasser mit einem großen Dankeschön und einem kleinen Trinkgeld.

Am nächsten Morgen lesen wir uns in die Favela-Thematik ein, wollen wissen, wie die sogenannte „Befriedung“ von statten geht und wo sie bereits erfolgreich durchgeführt wurde. Wir stoßen auch auf Cantagalo, die Favela von letzter Nacht, dessen Welt nur wenige Meter von der Copacabana entfernt beginnt und deren Ausläufer hoch über dem berühmtesten Strand der Welt thronen.

Cantagalo wurde in Vorbereitung der olympischen Spiele als eine der ersten Favelas befriedet. Bewusst und nicht ohne viel Kritik, wurden hierfür diejenigen Slums ausgesucht, die am dichtesten an den touristischen Gebieten liegen. Und genau dies, ist das besondere an Rios Favelas. Die reine Existenz von städtischen Slums ist leider nichts Besonderes, doch Rios „Schattenwelt“ grenzt oftmals nur einen Steinwurf entfernt an die beliebten Postkartenmotive. Auf der Suche nach Glück, kamen die Armen und Schwachen einst in die Metropole und errichteten notdürftig ihre Behausungen dort, wo noch Platz war: den unzähligen Hügeln der Stadt. Dies geschah illegal und damit ohne Kontrolle der Stadt. Mitte des 20. Jahrhunderts kamen dann die Drogen und hiesige Gangs lernten die fehlende Reichweite des Gesetzes in diesen Gegenden zu schätzen. Eine Parallelwelt entstand, nicht irgendwo am Rand, wo man leicht wegschauen konnte, sondern mitten in der Stadt. Doch die Berge waren hoch genug, man lernte trotzdem die Augen zu verschließen und so ging nach und nach jegliche staatliche Gewalt in den Favelas verloren. Sie wurden abgeriegelt, sich selbst überlassen. In den 90er Jahren gab es dann einen ersten Versuch die Favelas zurück zu erobern. Es wurde viel Blut vergossen, die Polizei zog sich zurück, andere übernahmen das Geschäft. Nun wurde ein neues Konzept entwickelt. Nachdem die schwerbewaffneten Kommandos der Militärpolizei die Favelas „gesäubert“ haben, werden sie von Einheiten der neugegründeten Friedenspolizei besetzt. Auch diese ist schwer bewaffnet, hat aber vor allem die Aufgabe, Präsenz zu zeigen, Nähe aufzubauen, das Vertrauen in die Staatsmacht zurück zu gewinnen. Dazu sollen staatliche Infrastrukturen in die befriedeten Favelas zurückkehren, ergänzt durch Bildungs- und Sozialprojekte. Den Armen und Mittellosen soll nach und nach wieder Teilhabe geboten werden. Seit 2008 wurden 40 der insgesamt ca. 1000 Favelas befriedet. Genaue Angaben über die Anzahl der Slums in Rio existieren nicht. Auch das spricht für sich. Schätzungen zufolge, leben rund 1,3 Millionen Menschen in den Favelas der wunderbaren Stadt, und das in einem Land, das zur siebt größten Volkswirtschaft unseres Planeten gehört. Die Dunkelziffer liegt wohl noch deutlich darüber.

Seit 2009 sind 179 Polizisten der UPP in Cantagalo stationiert. Zwischen 5000 und 9500 Menschen sollen hier leben. Die Favela gilt offiziell als befriedet. Sogar der Tourismus kehrte ein. Wagemutige können in einem Hostel hoch in den Bergen eine Aussicht genießen, mit denen die Wolkenkratzer an der Copacabana nicht mithalten können.

Wir haben genug Informationen gesammelt und Lukas und ich entscheiden uns zu gehen. Wir lassen alles im Hotel, schlüpfen in die Flipflops und stecken uns zur Sicherheit ein paar Scheine in die Tasche. Dann brechen wir auf. Im Kopf gehen wir die unsichtbaren Regeln durch, die oft wie ein Mythos über ganz Südamerika schweben. „Zeige deinen Besitz nicht offen herum“, „Sei immer zielgerichtet unterwegs“, „Fotografiere keine Menschen“, „Wirst du überfallen, gib alles her“ und vor allem „Hab immer etwas zum hergeben“.

Um nicht einfach so in dem Labyrinth der Gassen umherzuirren, haben wir uns im Vorfeld dazu entschlossen, eines der Hostel und das eingerichtete Museum der Favela zu besuchen. So treten wir ein, in die Parallelwelt und finden bereits nach wenigen Metern ein Schild, dass auf das Museum hinweist. Es zeigt weg von der Hauptstraße, hinein in eine Gasse. Rechts von uns hängen zwei Spiegel an der rohen Mauer, davor zwei Stühle mit Männern drauf, denen gerade die Haare geschnitten werden. Dann biegen wir nach links, in eine weitere Gasse. Vor uns steht sich eine Bande Halbstarker gegenüber. Ein Lockenkopf präsentiert seinen Freunden gerade stolz etwas. Wir laufen weiter auf sie zu, dann sehen wir die Waffe. Ein Adrenalinstoß zuckt durch den Körper. Wir bleiben stehen, überlegen was wir tun sollen. Dann werden wir entdeckt. Sofort verschwindet die Waffe lässig im Hosenbund, denn Waffen sind scheinbar schlecht fürs Geschäft. Ob wir Gras und Kokain kaufen wollen, werden wir mal wieder gefragt. Wir fragen stattdessen nach dem Museum. Von dem hat die Bande aber noch nichts gehört. Wir entscheiden uns zum Umdrehen, wollen zurück auf die Hauptstraße. Nach wenigen Metern sind wir wieder beim Friseur. Der lächelt uns zu, geht weiter seiner Arbeit nach.

Wir verwerfen die Suche nach dem Museum und gelangen zurück auf die Hauptstraße. Auf Ausflüge in kleine Gassen wollen wir erst einmal verzichten und schlicht das Hostel auf der Spitze des Berges erreichen. So schlängeln wir uns den Hügel hinauf, werden hier und da freundlich angeschaut, die meiste Zeit jedoch schlicht und ergreifend gar nicht beachtet. Zu keiner Zeit fühlen wir uns wie Frischfleisch im Raubtierkäfig und auch der anfängliche Schock ist bereits verdaut. Dennoch beobachten wir unsere Umgebung sorgsam, während wir das Labyrinth aus bunten Häusern, Treppen und Gassen bestaunen.

Ein Auto der UPP-Einheit kommt uns entgegen. Vier Polizisten und ein weiterer Mann sitzen im Auto. Drei von ihnen haben die Waffen im Anschlag. Das Fenster ist geöffnet, die Läufe der Gewehre auf beide Seiten der Straße gerichtet.

Wir erreichen das Hostel, dass direkt neben der UPP-Station errichtet wurde. Wir treten ein und werden freundlich von der jungen Besitzerin begrüßt. Wir stellen Fragen und die junge Dame antwortet bereitwillig. Gefährlich sei es im Grunde nicht, wenn man sich an gewisse Regeln halte, berichtet sie uns. Denn: die etwa 1,3 Millionen Favelabewohner in Rio, seien nicht alle Verbrecher. Die meisten seien normale Menschen, die ihrem Leben nachgehen. Doch alle haben ihren Stolz. Gerade deshalb solle man niemanden anstarren oder gar Fotos machen. Zudem solle man sich auch von den Gassen fernhalten. Die Gefahr sich in dem Labyrinth zu verlaufen sei nicht zu verachten. Zudem dürfe man nie vergessen, dass es sich bei einer Favela nicht um Museum oder gar Zoo handele, sondern hier Menschen leben und man sich nie sicher sein könne, durch wessen „Garten“ man gerade läuft. „Es ist alles eine Sache des Respekts“, sagt die junge Frau zu uns. „Behandle die Menschen wie Menschen. Gehe respektvoll mit ihnen um und dir wird das Gleiche widerfahren.“. Dann verschwindet ihr Lächeln für einen kleinen Augenblick. Etwas Wehmut legt sich in ihre Stimme, als sie davon berichtet, dass es dennoch in letzter Zeit wieder zu Schießereien kam. Das Vertrauen in den Staat sei nach wie vor schwach, die Korruption, gerade unter den Polizisten, groß. Ein Korruptionsskandal, der den brasilianischen Präsidenten betrifft, hat vor wenigen Tagen zu Ausschreitungen im ganzen Land geführt. Das alles ist Nährboden, für die kriminellen Banden. Zudem verschlingt das riesige Polizeiaufgebot Unsummen. Der Staat Rio de Janeiro hat den Finanznotstand ausgerufen. Gespart wird vor allem am Polizeiaufgebot in den Favelas. Außerdem sind Olympia und Weltmeisterschaft vorbei. Das Interesse der Weltgemeinschaft rückt ab von dem Paradies am Atlantik. Schatten machen sich wieder breit. Die Zukunft der Favelas ist ungewiss. „Doch so weit ist es in Cantagalo noch nicht“, sagt uns die Hostelbesitzerin. „Der Konflikt ist eine Sache zwischen einigen Leuten und der Polizei, Unmut über die Sicherheitskräfte hat es schon immer gegeben.“. Und in den Favelas wird dieser scheinbar mit der Waffe ausgetragen. Touristen und das Hostel seien davon nicht betroffen. „Im Großen und Ganzen werden Besucher von der Gemeinschaft akzeptiert.“. Sie würde sich über einen Aufenthalt von uns hier freuen. Wir bedanken uns für Gespräch und gehen hinauf zur Dachterrasse. Der Anblick verschlägt uns die Sprache. Wir blicken über ein Häusermeer von Baracken und Häuschen. Ein Stück weiter unten spiegeln sich die Glasfassaden der Hochhäuser in den Fluten des Atlantiks. Wie viele Menschen können wohl sonst jeden Morgen mit so einem Blick wach werden? An diesem Ort sind es die Ärmsten der Armen.

Wir verabschieden uns von der netten Frau. Sie bedankt sich für unseren Besuch und hofft auf ein Wiedersehen. Sie sagt Besucher wie wir seien wichtig für die Favelas. „Den Leuten muss klarwerden, dass auch hier nur Menschen leben, die einem Beruf nachgehen, sich um die Familie kümmern, den Freuden des Lebens frönen. Der Caipirinhamixer an der Copacabana, der aufdringliche Handtuchverkäufer, der Busfahrer, die Tänzerin auf dem Karneval. Sie alle leben zumeist in einer der Favela und als Tourist hat man mehr Kontakt zu ihnen als man glaubt. Somit wäre es Quatsch, Angst vor ihnen zu haben.“.

Diese Kontraste, zu den schillernden Seiten Rios, machen einen unfassbaren Reiz dieser Stadt aus. Licht und Schatten liegen hier so dicht beieinander, dass man nicht drum herumkommt, einmal genauer hin zu sehen. Und wenn man erst einmal hingeschaut hat, so wird man auch in dieser Schattenwelt glühende Lichtpunkte entdecken. In einem Artikel der Welt heißt es dazu „Die Favelas gehören zur DNA der Metropole. Der Zuckerhut, die Copacabana, die Christusfigur? Das sind ihre Wahrzeichen. Die Slums sind ihre Seele.“ 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3 Ansichten

Comments


bottom of page