Japan in einer Zugfahrt
Irgendwo zwischen Hiroshima und Fukuoka, 24.10.24
Japan versteht man sicherlich nicht in drei Wochen. Dazu würden vermutlich auch drei Jahre nicht reichen. Wer dennoch einen Versuch wagen will, hat die beste Chancen dazu in den unzähligen Zügen des Landes. Bei wohl keiner anderen Gelegenheit bekommt man einen so guten Einblick in die komplexe Seele dieses Landes wie bei einer Bahnfahrt.
Unsere erste Bahnfahrt führt uns vom Flughafen Narita in Tokio in die quirlige Innenstadt der Megametropole. Der Flughafenexpress „Skytrain“ kommt nicht pünktlich, nein er kommt überpünktlich. Ganze fünf Minuten zu früh rollt er auf das Gleis, spuckt seine Passagiere aus und lässt eine Schar von uniformierten Frauen und Männern ein, die die Zeit bis zur Abfahrt nutzen, um den Zug zu säubern und alle Sitze in Fahrtrichtung neu auszurichten. Eine Minute vor Abfahrt treten sie geschlossen an die Zugtüren, verbeugen sich höflich und bedanken sich bei uns, dass wir so brav vor dem Zug gewartet haben, während sie den Müll der vorherigen Passagiere wegräumten!
Wir steigen ein, verstauen unser Gepäck und machen es uns in den bequemen Sitzen gemütlich. Dann betritt der Schaffner unser Abteil. Auch er verbeugt sich höflich, dreht seine Runde durch den Wagon, bevor er schließlich in einer geschmeidigen Bewegung auf dem Absatz kehrt macht und rückwärts, mit gesenktem Haupt, das Zugabteil wieder verlässt, als würde er sich von einer Audienz beim Kaiser zurückziehen. Ein paar Minuten zuvor hat die Verkäuferin in der Bäckerei mir den Kassenzettel übergeben, als würde sie mir ein mit Diamanten besetztes Samtkissen überreichen. Sämtliche menschliche Interaktion wird mit so viel Ehrerbietung begangen, dass man sich als plumper Europäer reichlich ungehobelt daneben vorkommt. Doch neben diesen vermeintlich oberflächlichen Formen der Ehrerbietung zeigt sich auch immer wieder „echte Höflichkeit“. Die japanischen Mitmenschen wirken stets freundlich und zuvorkommend und stets hilfsbereit, wenn nicht gerade die Sprachbarriere dazwischen steht. Dazu sind sie zur Freude unserer Tochter auch spendabel und versorgen sie gelegentlich mit kleinen Geschenken. Und fast schon regelmäßig springen sie in den meist überfüllten Zügen auf und bieten ihr einen Sitzplatz an.
Und damit sind wir zurück in unserem Zug. Fast geräuschlos und pünktlich auf die Sekunde rollt dieser los. An dieser Stelle haben sich bereits zwei weltberühmte Klischees über Japan erfüllt, die sich im Laufe unserer Reise noch oft bewahrheiten werden: Höflichkeit und Pünktlichkeit.
Japaner und ihre Züge sind für DB-geschädigte Deutsche absurd pünktlich. Während unserer ganzen Zeit haben wir lediglich eine Zugverspätung erlebt. Die U-Bahn kam ganze drei Minuten zu spät, was an der dazugehörigen Anzeigetafel ohne Ausreden und mit schlichter Selbstkritik als „enorme Verspätung“ betitelt wurde. Die Deutsche Bahn würde so wohl einen Totalausfall der Verbindung betiteln, dafür aber allerhand kreative Begründungen hinterherschieben.
Die japanischen Züge fahren dagegen nicht nur pünktlich, sondern auch in einer Taktung, dass wir noch nie länger als sieben Minuten auf eine Bahn warten mussten. Das heißt, man kann nahezu auf blauen Dunst zu einem Bahnhof seiner Wahl gehen und sich sicher sein, dass ein Zug mit der passenden Richtung in den nächsten sieben Minuten erscheinen wird. Und das gilt sowohl für städtische U- und S-Bahnen als auch für Regional- und Hochgeschwindigkeitszüge, die teilweise in einer fünf Minutentaktung von den japanischen Bahnhöfen abbrausen. Diese sind übrigens so riesig und vollgestopft mit Läden, dass man meistens gar nicht weiß, ob man jetzt in einem Einkaufszentrum mit Bahnhof oder einem Bahnhof mit einem Einkaufszentrum gelandet ist. Wieder so ein Punkt, den man während einer Bahnfahrt über Japan lernen kann: Japan frönt den Verlockungen des modernen Kapitalismus so sehr, dass man fast meinen könnte, die Japaner haben den Kommerz erfunden. Wenn Amerika die Mutter des Kapitalismus ist, scheint Japan der spät dazugekommene Stiefvater zu sein, der seine versäumte Zeit mit dem liebgewonnenen Stiefkind nun ausgiebig nachzuholen hat. Die Angebote sind so vielfältig wie aufdringlich und so ist man oft einfach nur erschlagen von den unzähligen Reklamen und nervigen Werbejingles, die selbstverständlich auch vor den Zügen nicht halt machen. Wie praktisch, dass die tausenden Snack- und Spielzeugautomaten auch gleich mit dem Zugticket bezahlt werden können. Überhaupt wird der Konsum, wie auch alles andere in Japan stets so effektiv und unkompliziert wie möglich gestaltet. Oftmals mit einer Menge technischen Know-hows, von dem sich Deutschland durchaus noch die ein oder andere Scheibe abschneiden kann. Die Devise scheint zu lauten: niedrigschwelliger Konsum at its best. Kein Wunder, dass gerade unsere Tochter magisch von den unzähligen Lichtern und verspielten Illustrationen angezogen wird. Drei Wochen Japan reichen wohl locker aus, um am Ende der Reise glücksspielsüchtig nach Hause zu kommen. Angebot und Nachfrage von Spiel- und vor allem Glücksspieleinrichtungen in Japan lassen darauf schließen, dass der Umgang damit hier zumindest nicht unproblematisch ist. Zumeist sind es junge Männer in Hemd und Anzug, die am frühen Abend an einem der unzähligen Greif- oder Spieleautomaten ihr Kleingeld verzocken. Als würden sie sich nach einem langen und harten Arbeitstag noch schnell belohnen wollen.
Und die Arbeitstage scheinen hier sehr hart und lang zu sein. Wieder so eine Sache die man nur beim Zugfahren über Japan lernt. Im Sinne japanischer Effizienz werden auch die kürzesten Zeiten für ein Power Nap genutzt. Egal ob man nur zwei Stationen mit dem Zug fährt oder 20 Sekunden auf einer Rolltreppe steht. Das eigentlich bemerkenswerte dahinter ist die faszinierende Eigenschaft der Japaner, stets im richtigen Augenblick wieder wach zu werden. Diese Gabe wird nur noch von der an Hexerei grenzenden Eigenschaft übertroffen, Müll spurlos verschwinden zu lassen. Denn wenn es im Land des Überflusses an einem mangelt, so sind es Mülleimer. Und dennoch zeigen sich Japans Städte und vor allem die Bahnhöfe blitzeblank. Und das bei Millionen von Fahrgästen die täglich ihre dreifach in Papier und Plastik verpackten und schön hergerichteten Lunchpakete in den Zügen verspeisen. Gefühlt fallen für 10 Gramm Nahrung, 100 Gramm Müll an und teilweise sind wir ewig mit einem vollen Müllbeutel durch die Stadt gerannt, bevor wir ihn endlich irgendwo los geworden sind. Die Japaner lösen ihren Müll dagegen scheinbar einfach in Luft auf. Wir haben zumindest niemanden mit Mülltüten herumlaufen sehen und die Straßen und Züge der japanischen Metropolen sind so blitze blank, dass man sein Mahl vom sprichwörtlichen Boden einnehmen könnte. Und wem das immer noch zu dreckig ist, dem empfehle ich auf einer japanischen Zugtoilette zu dinieren. Alle die schon mal ein Zugklo eines Regionalexpresse (üb)erlebt haben, werden jetzt angewidert die Nase rümpfen. Doch in Japan gehören die Zugtoiletten zu den vermeintlich saubersten Orten im Zug. Dazu gibt es diverse Hygieneartikel und musikalische Unterhaltung für das nötige Geschäft. Nicht um sich die eigene Zeit auf dem Pott zu verschönern, sondern um etwaige Wartende Personen mit der digitalen Geräuschkulisse von den selbstfabrizierten, analogen Sounds abzulenken. Aus reiner Höflichkeit versteht sich.
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