Geschichten von nebenan
Aktualisiert: 24. Aug.
Die imposante Gründerzeitfassade hat ihre besten Tage hinter sich. Die Wände sind schmutzig grau, die Fenster angelaufen. Innen bröckelt der Putz von den Wänden, das Licht flackert. Ich werde das Gefühl nicht los, ins Berlin der 90er Jahre gereist zu sein. Ich war zwar nie im Berlin der 90er, aber genau so stelle ich es mir vor. Grau in Grau, schmutzig, schäbig, aber irgendwie auch charmant. Mina dagegen findet den Hausflur einfach nur gruselig und ihr Eindruck verstärkt sich noch, als wir die ersten Wohnungstüren erblicken. Alle sind mit schmiedeeisernen Gittern verbarrikadiert, als gelte es, Gefangene drinnen oder Einbrecher draußen zu halten, was den zwielichtigen Eindruck noch verstärkt. Wir öffnen unseren Verschlag und dahinter verbirgt sich eine stilvoll eingerichtete Wohnung auf dem neuesten Stand. Oftmals trügt der äußere Eindruck, das gilt für unser Zuhause auf Zeit genauso wie für unseren schrulligen Nachbarn nebenan. Dessen Gittertür ist direkt neben unserer und auf dem Weg zu unserer Wohnung müssen wir jedes Mal an seinen sperrangelweit geöffneten Fenstern vorbei und können immer wieder aufs Neue nicht widerstehen, einen Blick hinein zu werfen. Unser Nachbar ist ein älterer Herr von gut 80 Jahren. Meistens sitzt er nur mit Unterhose bekleidet zwischen Wänden voller Bücher an seinem Schreibtisch, eine Zigarette im Mund und liest. Oder er steht, ebenfalls nur mit Unterhose bekleidet, mit einer Zigarette im Mund in seiner Küche und kocht.
Eines Tages bemerkt er, wie wir abends nach Hause kommen, öffnet seine Tür und grüßt uns durch die noch geschlossenen Gitterstäbe. Diesmal ist unser Nachbar angezogen. Seine große dunkle Brille und sein volles weißes Haar verleihen ihm eine intellektuelle Aura, der vom Tabakrauch vergilbte Bart, die halbgerauchte Kippe in seiner Hand und die leichte Fahne, die ihn umgibt, lassen diese Aura wieder bröckeln. Unser Nachbar pendelt also irgendwo zwischen pensioniertem Universitätsprofessor und Landstreicher und begrüßt uns freundlich. Er spricht gutes, wenn auch schwer verständliches Englisch. Er plappert sofort los, nagelt uns an der Tür fest und wir wissen irgendwie nicht so recht, was wir davon halten sollen, stehen unschlüssig im Türrahmen und nicken nur freundlich. Schließlich entlässt er uns aus der Situation, wir schließen die Tür hinter uns und sortieren unseren Nachbarn gedanklich in die Schublade „verrückter, alter Mann“ mit dem Vermerk: „weiteren Gesprächen möglichst aus dem Weg gehen“.
Einen Tag später verlasse ich gerade die Wohnung und steige die ersten Stufen hinunter, als sich hinter mir ein Schlüssel im Schloss dreht. Ich denke gerade noch an meinen mentalen Aktenvermerk als ich schon ein schwer verständliches „Hallo“ hinter mir höre. Mit einem leisen Seufzer bleibe ich mitten auf der Treppe stehen, drehe mich um und habe sofort ein Gespräch an der Backe. Gut fünf Minuten lang lächle ich nur freundlich und nicke stumm, in der Hoffnung, so schneller aus der Situation herauszukommen. Irgendwann füge ich mich dann doch in mein Schicksal und lasse mich angesichts der ohnehin ausweglosen Situation auf das Gespräch ein. Die Geschichten, die mir unser Nachbar da ungefragt auftischt, sind ziemlich abgefahren. Wir springen von den Oberhausener Filmfestspielen 1968 zum Spanischen Bürgerkrieg und wieder zurück ins kádáristische Ungarn der 50er Jahre. Die Schublade in meinem Kopf meldet sich und ich versuche, durch geschicktes Nachfragen mein so leichtfertig vergebenes Etikett „verrückter alter Mann“ zu bestätigen. Doch so wirr und unglaublich die Geschichten auf den ersten Blick erscheinen, unser Nachbar hat auf alles eine plausible Antwort und je länger wir uns unterhalten, desto mehr zeichnet sich die Geschichte eines bewegten Lebens ab. Sipos István, so stellt er sich später vor, war ein bedeutender Regisseur, Filmemacher und Dissident, der vor allem in Frankreich und nach dem Fall des Ostblocks in Ungarn gearbeitet hat. Er erzählt mir von Folter und Elektroschocks, vom Leben im Exil und der Abschiebung nach Spanien, aber auch von seiner Leidenschaft für das Kino und seinen Erfolgen als renommierter Regisseur. Ich bin bewegt von dem Gespräch, komme aber nicht umhin, das Gesagte später noch einmal zu recherchieren. Vieles von dem, was er erzählt, ist schwer zu überprüfen. Aber einen Filmemacher namens Sipos István, der unserem Nachbarn zum Verwechseln ähnlich sieht, hat es definitiv gegeben.
Was bleibt, ist eine spannende und unerwartete Begegnung mit einem interessanten Menschen und die Erkenntnis, dass der Mensch doch viel zu schnell und meist vernichtend urteilt. Dabei ist es mit Menschen wie mit schicken Apartments: Manchmal trügt der äußere Schein und ein schmutziger Hausflur und ein vergilbter Tabakbart haben nicht immer etwas zu bedeuten.
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