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Kapitel 4: Gerueche einer Reise

Warme Nebelschwaden waberten durch den mit feinen Mosaiken gefließten Raum. Große Kronleuchter tauchten ihn in ein sanftes Licht. Aus der Ferne erklang leise Musik und ein warmer Wasserstrahl plätscherte über Siwas Kopf, während Macarius in der Ecke auf ein paar Kissen döste. In den letzten Tagen sind die beiden mit dem Zug durch halb Europa gereist.

Kapitel 4: Gerueche einer Reise

Von Wien ging es weiter nach Budapest und Bukarest, und auch wenn Macarius wie versprochen Gefallen am Nachtzugfahren gefunden hat, machten die langen und engen Fahrten den beiden doch irgendwann zu schaffen. Wobei Macarius mit der Enge weniger Probleme hatte. Die ersten Kilometer hatte er zitternd in seinem Plastikbecher verbracht und sich nur langsam herausgetraut. Und gerade als er anfing, die Fahrt zu genießen, kam die erste Grenzkontrolle. Eine Grenzkontrolle ist etwas, das viele von uns hier in Europa gar nicht mehr kennen und meistens können wir in andere Länder reisen, ohne kontrolliert zu werden. Aber wenn man erst einmal weit weg von zu Hause ist, kann es schon mal passieren, dass man von Polizisten kontrolliert wird, wenn man in ihr Land einreisen will. Normalerweise ist das nicht schlimm, aber wenn so eine Kontrolle mitten in der Nacht stattfindet, die Polizisten in dein Zugabteil kommen und du noch dazu ein ängstlicher kleiner Krebs bist, dann kann dir das schon einen ganz schönen Schrecken einjagen. Macarius jedenfalls bekam einen gehörigen Schrecken, und als die Zöllner sein Abteil betraten, sahen sie nur noch einen kleinen Krebs, zusammengerollt in einem Plastikbecher, und mussten unwillkürlich lachen. Auf der nächsten Fahrt passierten sie noch zwei weitere Grenzen und Macarius gewöhnte sich nur langsam daran. Siwa dagegen hatte so ihre Probleme mit den engen Betten und Sitzen in den Zügen und Bussen, vor allem immer dann, wenn Macarius sich vor lauter Angst wieder ganz eng an sie kuschelte, und war mit der Zeit nicht mehr der allseits fröhliche Kakadu, der sie sonst zu sein pflegte. Und auch wenn sie es nie zugeben würde: Siwa war einfach müde und brauchte genauso eine Pause wie der kleine Macarius. Umso besser, dass sie nach über 2500 Kilometern ihr erstes großes Etappenziel erreicht haben: Istanbul, eine tolle Stadt zum Muscheln suchen, wie Siwa fand, und noch dazu ein wahnsinnig geschichtsträchtiger Ort, wie Macarius begeistert ergänzte. Aber dazu später mehr. Erst einmal stand für die beiden Erholung auf dem Programm. Noch während sie sich die letzten Kilometer der Stadt näherten, schwärmte Siwa von den türkischen Bädern, die sie auf ihren anderen Reisen schon hier und da besucht hatte. „Du meinst wohl ein Hamam“, erwiderte Macarius schlaftrunken, aber dennoch mit einem Anflug von Besserwisserei in der Stimme.
„Wie auch immer“, fuhr Siwa unbeirrt fort. „Auf jeden Fall sollten wir das als Erstes machen. Dann können wir uns richtig verwöhnen lassen und uns von den Strapazen erholen und außerdem“, Siwa rümpfte die Nase und sprach mit gesenkter Stimme weiter. „Eine Dusche würde dir auch mal wieder gut tun. Wann hast du dir eigentlich das letzte Mal die Zähne geputzt, Macarius?“ Der kleine Krebs ging nicht darauf ein, sondern sprach wieder mit seiner Oberlehrerstimme, wie er es immer tat, wenn er mit Wissen aus einem seiner Bücher prahlen konnte. „Wusstest du, dass die ursprüngliche Funktion solcher Hamas nicht die Erholung war, sondern tatsächlich die Möglichkeit, sich zu waschen? Die Idee stammt von den Römern, ist also viele tausend Jahre alt und wurde schließlich von den Türken übernommen und in der ganzen Welt bekannt gemacht. Die meisten Menschen auf der Welt kennen es heute als eine Möglichkeit, sich zu entspannen und seinem Körper etwas Gutes zu tun, aber bis vor wenigen Jahrzehnten hatten die Menschen selbst in Istanbul oft kein eigenes Bad und gingen deshalb regelmäßig ins Hamam, um sich zu waschen. Ist das nicht verrückt? Für uns ist es selbstverständlich, dass wir ein eigenes Bad mit Toilette und Waschbecken haben. Aber für viele Menschen ist es das bis heute nicht“.
„Ja und was es bedeutet kein eigenes Bad zu haben, kann man an uns beiden sehr gut sehen, oder besser gesagt riechen“, sagt Siwa mit einem Augenzwinkern. „Und jetzt ab ins Hamam mit dir.“
Eine Stunde später fühlte sich die sonst so harte Schale des Krustentieres butterweich an. Immer wieder hatten sie sich gegenseitig eingeseift und den Schmutz der letzten Tage von ihren Körpern gewaschen. Dabei zogen angenehme Dampfschwaden durch den Raum und die wabernde Musik tat ihr Übriges. Wohlig warm und zufrieden sank Macarius in die vielen Kissen und schloss die Augen, um sich von den Strapazen der bisher größten Reise seines Lebens zu erholen.

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